Entstanden ist es, nachdem in Biel 1923 der Bahnhof vom Guisanplatz an seinen heutigen Standort verlegt worden war. Gleichzeitig wurden auch die Bahntrassen neu geplant. Durch die Verlegung wurde die Stadt Biel Besitzerin einer Fläche von 90 000 Quadratmetern, die es zu überbauen galt. 1925 übernahm Otto Schaub die Leitung des Stadtbauamtes. Er arbeitete genaue Bauvorschriften für das neue Bahnhofsquartier aus, darunter eine Bauhöhe von 20 Metern an der Bahnhofstrasse bis zum Dachgesimse (an den übrigen Strassen 13,5 Meter), ein rückversetztes Attikageschoss, horizontale Fensterbänder, ein durchgehendes Vordach mit Glasbaustein und ein Flachdach. Durch diese Bauvorschriften, die die Bieler 1930 in einer Volksabstimmung mit deutlicher Mehrheit annahmen, konnte ein architektonisch einheitliches Quartier entstehen, das grosses Lob von progressiven Architekten und Städteplanern aus der ganzen Schweiz erfuhr. Erbaut wurde es im Stil des Neuen Bauens. Diese Architekturbewegung wollte durch Typisierung der Wohnungsgrundrisse die Verwendung neuer Werkstoffe und Materialien sowie schlichte Gestaltung eine neue Form des Bauens und Wohnens entwickeln. Das 1919 gegründete Bauhaus ist ein Teil davon – sein Stil stösst bei vielen jungen Architekten auf Anklang, so eben auch in Biel.
Zusammenspiel mehrerer Faktoren
Einer, der sich eingehend mit dem architektonischen Erbe von Biel befasst, ist Matthias Grütter. Der unabhängige Stadtführer hat sich dem wenig bekannten architektonischen Erbe der Stadt zugewandt und dazu einen abwechslungsreichen Stadtführer erarbeitet. Bei einer Führung mit Grütter durch das Bahnhofsquartier erfährt der Teilnehmer Geschichte hinter den Häusern auf spannende Art und Weise und erhält einen völlig neuen Blick auf die Stadt. Die Eleganz der glatten neutralen Fassaden und die Zeitlosigkeit der Markisen aus Glas und Beton an der Bahnhofstrasse werden deutlich. Aber wieso entstand dieses Quartier gerade in Biel? «Neben dem neuen Baustil der Moderne, der Expansion der Stadt und der Versetzung des Bahnhofs inklusive neuer Linienführung war auch das Rote Biel eine Grundvoraussetzung», weiss Grütter. Ab 1921 wurde Biel von einer sozialdemokratischen Mehrheit unter der Führung des Stadtpräsidenten Guido Müller regiert. Müller war offen für die Anliegen des Neuen Bauens, bei dem der Sozialverantwortung eine zentrale Bedeutung zu kommt. Den Menschen sollte Wohnen mit viel Sonne, Luft und Licht ermöglicht werden, das im Gegensatz zu den beengten Wohnverhältnissen in Hinterhöfen, aber auch zum historisierenden Baustil stand.
Ein gutes Beispiel hierfür ist die im Originalzustand erhaltene Waschküche des Europahauses. Sie befindet sich nicht etwa im Keller, sondern im obersten Geschoss, das Zugang auf eine Dachterrasse bietet. «Früher dauerte das Waschen viel länger und die Leute sollten nicht stundenlang in einem dunklen Keller bei der Arbeit sein», erklärt Grütter. Es ist eines der vielen Details, die Grütter in Biel entdeckt hat und bei seinen Führungen fachkundig und lebendig erzählt. Der Funktionalismus, dem sich die Vertreter des Neuen Bauens verschrieben haben, wird auch an anderer Stelle deutlich. In einem sorgfältig gestalteten Hauseingang weist Grütter auf ein kleines Loch im Treppenaufgang hin – durch es kann das Regenwasser zurück auf die Strasse fliessen.